Einer flog über das Kuckucksnest
 

 

 
 
Kritiken:
 

Vom Irrsein im Rathaus

Beeindruckende Vorstellung: „Einer flog über das Kuckucksnest“ in Heidenheim

Einen schweren Brocken hat sich da das „Freie Theater Heidenheim“ mit „Einer flog über das Kuckucksnest“ herausgesucht. Zum einen weil der Roman, den Ken Kesey 1959 veröffentlichte, in einem Irrenhaus spielt, zum anderen deshalb, weil diese Geschichte im Bewusstsein eines breiteren Publikums immer mit der Verfilmung von Miloˇs Forman assoziiert werden wird, genauer genommen mit dem diabolischen Grinsen, das Jack Nicholson so gut zu Gesicht steht.
Was kann man also gegen einen Mythos tun? Erstaunlich viel, wie das „Freie Theater“ rund um Organisator Oliver von Fürich und Regisseurin Regina Trinkaus bei der Premiere des von Dale Wasserman für die Bühne bearbeiteten Stoffes am Sonntagabend im Heidenheimer Rathaus unter Beweis stellte. Allein die Idee, nicht die Bühne eines Theaters, sondern das Foyer einer kommunalen Behörde für einen Abend in ein Irrenhaus zu verwandeln, ist so unverschämt gut, dass man sich zumindest hier an dieser Stelle erstens gar nicht erlauben will, darüber nachzudenken, was damit eigentlich ausgedrückt werden soll.
Und zum zweiten, mit dem unpersönlichen kahlen Ambiente dieses 70er-Jahre-Zweckbaus mit seinem verwinkelten Treppenhaus und seinen langen, grauen Gängen und Wegen, die irgendwie alle ins Nitschewo zu führen scheinen, haben die Theatermacher auch noch die typisch-sterile und auf unbestimmteWeise allein durch ihre Ausmaße bedrohliche Klinikatmosphäre als Hintergrundkulisse frei Haus geliefert bekommen. Respekt, die Kulisse als „Hauptdarsteller“ zu verwenden und für sich sprechen zu lassen – das war sicherlich eines der Erfolgsgeheimnisse, mit denen die Theatermacher den Leinwandmythos erfolgreich knackten.
Bleibt immer noch übrig: Jack Nicholson. Was macht man gegen den, wenn man weder ChristopherWalken ist, noch Ehrengast in der Playboy Mansion, ja noch nicht mal über einen Humidor verfügt im „Beverly Hills Grand Havanna Room“? Was kann man überhaupt noch machen, wenn man Bernhard Brendle heißt? Und auch hier lautet die verblüffende Antwort: erstaunlich viel.
Mit welch erfrischender Chuzpe undNaivität sich Brendle die Figur des McMurphy anverwandelt und sie zu etwas eigenem macht, ist so erstaunlich, dass es zugegebenermaßen gar nicht zu glauben ist, so lange man es nicht selbst gesehen hat.
Und jetzt kommt das eigentliche Geheimnis dieser gelungen Interpretation voll zum Tragen: Die Hauptfigur liefert keine One-Man- Show mit Stichwortgebern, sondern ist Teil eines starken Ensembles, das sich im wahrsten Sinne des Wortes den Ball zuspielt.
Insbesondere in der „Irrenfraktion“ ist jede einzelne Figur mit einem für sie charakteristischen Detail ausgestattet. Norbert Sluzalek als Häuptling Bromden ragt dabei fast schon naturgemäß heraus. Aber auch die „Behandlungsfraktion“, angeführt von Schwester Ratched (Kirsti Frahm) und Dr. Spivey (von Fürich) beherrscht ihr Geschäft, an dessen Ende sich der Zuschauer unwillkürlich fragen muss, auf welcher Seite die Irren hier eigentlich zu suchen sind. Das Allerverblüffendste aber ist, dass dem Ensemble eine wesentlich realistischere Annäherung an einen Klinikalltag gelingt, als es der Verfilmung möglich gewesen ist. Chapeau.
HZ vom 21. Oktober 2008 Holger Scheerer

 

Panoptikum der Psychopathen

Freies Theater mit „Einer flog übers Kuckucksnest“ im Heidenheimer Rathaus: Experiment mit teils spektakulären Überraschungen

Ein Reigen der Gestörten, ein Panoptikum der Psychopathen zappelt und brabbelt da im Heidenheimer Rathaus-Foyer: „Die Welt gehört den Starken. Wir alle sind Kaninchen“, sagt ein Irrenanstalts-Insasse, mit großer Klarheit. Doch die Irren erwerben sich Würde, die Unter- würfigen werden renitent – weil da einer kommt, der sie mit der Kraft der solidarisierenden Subversion stark macht. Und der schließlich, fast schon stellvertretend, für sie stirbt. Das „Freie Theater Heidenheim“ sorgt mit „Einer flog übers Kuckucksnest“ für eine schlüssige, sehr beeindruckende Inszenierung. Und für einige spektakuläre Überraschungen.
Den Titel von Ken Keseys „Kuckucksnest“ kennt jeder; dank des hoch erfolgreichen Films (fünf Oscars!). Und hier kennt auch jeder das Foyer des betonpräsenten Heidenheimer Rathauses. Beides zusammen bringen zu wollen, ist schon mal mutig – und ebenso reizvoll wie neugierig machend. Die Inszenierung, die am Sonntag abend Premiere hatte, war denn auch seit Tagen ausverkauft.
Aber auch Skepsis war angebracht: und diese wurde zu Beginn der zweieinhalb stündigen Inszenierung auch nicht gleich ausgeräumt. Warum dieses Psycho-Milieu von Kesey (1962!) heutzutage, wo „Irrenanstalten“ doch längst ganz anders funktionieren? Der Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung am Klinikum Heidenheim saß übrigens in der ersten Reihe.
Und warum diesen Roman dramatisieren? Und überhaupt: Eine irre Inszenierung mit lauter Amateuren, zumal mit solchen, die man in der Mehrzahl auf hiesigen Bühnen noch nie gesehen hat? Es gab in der Tat einige unbotmäßige Lacher ob der zappelnden Kranken . . .
Also: Risikobereitschaft besitzen Oliver von Fürich (Vorsitzender des e.V.) und Regina Trinkaus (Regie) in nicht unerheblichem Maße. Sie trauen sich was; und ihr Mut wird, je länger die Akteure sich freispielen, auch zusehends belohnt.
Es geht um eine Gruppe von Irrenhaus-Insassen, die beständig kontrolliert und kleingehalten werden von der „Großen Schwester“ – letztlich ihrer Schicksals-Göttin. Da kommt ein selbstbewußter, renitenter McMurphy in die Anstalt – und macht sich, was von ihnen zunächst nicht sehr geschätzt wird, zu ihrem Anwalt. Mit seiner renitenten Beharrlichkeit macht er aus den Objekten repressiver Unterdrückung Sub- jekte mit eigener Würde, eigenen Wünschen und Rechten.
Doch die Sache geht nicht gut; die Große Schwester sitzt in der geschlossenen Anstalt natürlich am längeren Hebel. Sie spielt „Gott“, was sie aber McMurphy unterstellt – und raubt ihm operativ die Persönlichkeit und letztlich auch das Leben.
Das Ganze erinnert an den „Club der toten Dichter“ – und spielt doch in einem ganz anderen Milieu. In dem die plausible Inszenierung aber nicht verharrt – kein Zufall, dass Buch wie Film ja gerade seit jugendprotestbewegten Jahrzehnten ein überragender Erfolg ist.
Mit der Architektur des Heidenheimer Rathauses wird man heute eigentlich nimmer warm; und wohl auch deshalb hat die Inszenierung in diese betonharte Umgebung eine Irrenanstalt von früher implementiert. Freilich: Die durchaus komplexe Architektur wird von der Regie zu wenig genutzt; nur wechselnde Auf- und Abtritte reizen die Möglichkeiten zu wenig aus. Was die Inszenierung aber hervorragend schafft, ist die eindrucksvolle Einbindung der Akteure, ihrer Charaktere und Möglichkeiten. Mit bewundernswertem Engagement wurde da gearbeitet, gestaltet, gefeilt. Und das Ensemble ist ein buntes Völkchen, das einen großartigen, beeindruckenden „Bühnen“-Einstand gab.
Eine Entdeckung, anders kann man es nicht nennen, ist Bernhard Brendle als McMurphy, der den aufrührerischen Anführer, ja: sehr souverän und selbstbewusst spielt. Es sollte nicht seine letzte Rolle in Heidenheim gewesen sein . . . Ebenfalls eine Entdeckung ist Norbert Sluzalek, der den indianischen Häuptling Bromden spielt, ein „kleiner“ Riese, der zusehends über sich hinauswuchs. Man kennt ihn als Heidenheimer Sozialarbeiter; die Rolle im „Kuckucksnest“ taugt ihm zunächst auch aufgrund seiner spezifischen Typenhaftigkeit – und er füllt sie mit Bravour!
Auch eine Entdeckung, etwas leiser, aber nicht weniger konturenscharf: Waldorf-Lehrerin Kirsti Frahm als „Große Schwester“. Aber auch mit verhalteneren Tönen, mit scheinbar kleiner Gestik und Mimik, vermag sie durchweg sehr zu überzeugen.
Vierte Entdeckung ist Armin Dömel, der bei der Theaterspielgruppe Königsbronn zum erfahrenen Spieler reifte, sich hier aber in ganz unerwarteter Tiefe als Charakterdarsteller „irre“ profilieren kann.
Neben diesem begeisternden Quartett sind auch die anderen Akteure überzeugend, v.a. der durchweg sehr bewegte, sehr individuelle Reigen der kranken „Kaninchen“ gibt eine bewegende Vorstellung.
Erwähnt sei hier, stellvertretend für alle der vielen Beteiligten, Oliver von Fürich, der den Irrenarzt spielte, als Vereinsvorsitzender sowie Produktionsleiter und Organisator (und wohl auch vielfältiger Strippenzieher) verantwortlich war.
Sehr langanhaltend und intensiv war der Beifall des Premieren-Auditoriums für Leistung, Aufwand und Engagement aller Beteiligter: Die Truppe ist eine Bereicherung der regionalen Kulturszene!
Und das „Kuckucksnest“ eine experimentierfreudige, ebenso originelle wie (verwenden wir das Adjektiv halt noch mal:) eindrucksvolle Gesamtleistung.

HNP vom 21 Oktober 2008 Von Manfred Allenhöfer

 

 

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